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Montag, 30. August 2021

Purismus


Edouard Goerg (W. George: Goerg. Paris 1929)

Die Kritik an der vermeintlichen Verfremdung der circensischen Kunst durch „wesensfremde Elemente“ ist fast so alt wir der neuzeitliche Circus selbst (vgl. https://circusplakate.blogspot.com/2019/12/nostalgia.html) und lässt sich auch heute auf traditionelle Unternehmen übertragen, die versuchen, ihre Programme durch aufwändige Showelemente, vordergründige technische Effekte und nicht zuletzt grenzwertig-kitschige Anleihen an Musical sowie Schlager/Pop- und Rockkonzerte einem breiten Publikumsgeschmack anpassen.
Andere, wie lange Zeit der Circus Alexis Gruss, erreichen ihr Publikum durch völlig entgegengesetzte "authentische" Konzepte. Auch viele dem „Cirque Nouveau“ zuzurechnende Ansätze entsprechen grundsätzlich puristischen Auffassungen von der Circuskunst, wie sie Rudolf Großmann in einem sehr lesenswerten Artikel unter der Überschrift „Zur Psychologie der Manege“ 1934 in der Zeitschrift „Der Querschnitt“ formulierte, und erscheinen vor diesem Hintergrund gar nicht so „neu“: Großmannn sah im „Preisgegebensein“ des Artisten in der Manege inmitten der ihn von allen Seiten umgebenden Zuschauer die „Magie des Zirkus“, die in Gefahr sei, „in Massenhaftigkeit und Mechanisierung zu ersticken“ und forderte eine Art „Traditionsgebundenheit", wie sie das japanische No-Theater auszeichnet. „Es gibt überkommene Formen, die nicht modernisiert werden können, ohne daß sie ihr Wesentliches verlören, ihren 'Sinn'.“

Sowjetisches Circusplakat aus dem Jahr 1968 von
Vladimir S. Kostjuschin

Schutzumschlag eines russischen Circusbuches aus dem Jahr 1969

Illustration im Programm der Gala de l'Union des Artistes 1950

Weniger ist (nicht immer) mehr

 
Maciej Urbaniec 1973

Vor einigen Wochen verstarb ein ganz Großer seiner Kunst, der Jongleur Chris Christiansen. Seine Darbietung gipfelte nicht in der Jonglage einer möglichst großen Anzahl von Bällen oder Keulen, sondern in einer „magischen Balance“ mit einem Ball, bei der, wie Jens Thorwächter-Jeton in seinem Nachruf in der „Circuszeitung“ vom August 2021 schreibt, „der weiße Ball aus dem Genick heraus langsam den Rücken herabrollt, während sich Chris geschmeidig in den Handstand begibt. In höchster Präzision gleitet der Ball entlang der gestreckten Beine, um mit dem letzten Hauch von Energie oben auf den Fußsohlen zum Erliegen zu kommen – ein Moment der Vollkommenheit.“

Eine im Einsatz der Mittel derart konsequent reduzierte Performance bei so weitgehendem Körpereinsatz ist eher untypisch für die Jonglage im Circus, bei der i.d.R. Geschwindigkeit und Effekte im Vordergrund stehen. Die meisten Jongleure, die Technik und Ausstrahlung hierbei in besonders wirkungsvoller Weise vereinigen, stammen wie so viele ausdrucksstarke Artisten aus Südeuropa. Der bekannteste Jongleur aller Zeiten – Enrico Rastelli – war Italiener.
Aber auch Jongleure aus anderen Breiten zelebrier(t)en die Kunst der Jonglage auf eigene überzeugende Weise, ein Meister seines Faches hierzulande war zuletzt Francis Brunn.
Ein „Weniger ist mehr“ pflegen hingegen oftmals die im öffentlichen Raum oder in alternativen Circusprojekten auftretenden Berufskollegen zumeist weniger aus künstlerischen Erwägungen. Ihre mehr oder weniger originellen dramaturgischen Mittel, um das nicht selten bescheidene Repertoire bzw. den niedrigen Schwierigkeitsgrad der Tricks zu kaschieren, können dabei nicht immer so ganz überzeugen.

"Jongleure" - Russisches Circusplakat

Bram Vermeulen 1993

Montag, 16. August 2021

Malaga

 

Marcel Vertès: Écuyère (France Illustration, No 88, Numéro Spécial d'Été. 1947)


Der Reiz, den Artisten und insbesondere Artistinnen auf Bürger, Aristokraten und das „gemeine Volk“ gleichermaßen verströmten (dazu: https://schaubuden.blogspot.com/2016/11/lustobjekte.html), fand in verschiedenen literarischen Werken seinen Nachklang.
In Balzacs 1841 erschienener Erzählung „Die falsche Geliebte“ täuscht der adlige Tadeusz Paz eine leidenschaftliche Beziehung zur Akrobatin und Kunstreiterin Malaga allerdings nur vor, um von seinen Gefühlen für die Frau seines besten Freundes abzulenken – und beschwört dabei geradezu stereotype Bilder von der Artistin, die einmal mehr zur Projektionsfläche männlicher Sehnsüchte nach einem Frauentypus außerhalb der eigenen Gesellschaftsordnung wird:
„Ja, ich, Graf Paz, ich bin toll verliebt in ein Frauenzimmer, das mit der Familie Bouthor durch Frankreich zog. Das waren Zirkusbesitzer nach Art des Zirkus Franconi, aber sie verdienten ihr Geld nur auf Jahrmärkten. Ich sorgte dafür, dass sie vom Olympia-Zirkus engagiert wurde. Malaga - so lautet ihr Künstlername - ist kräftig, behend und geschmeidig. Warum ich sie allen anderen Frauen vorziehe? Wahrhaftig, das vermag ich nicht zu sagen. Wenn ich sie sehe, die schwarzen Haare von einem blauen Atlasband zusammengehalten, das auf ihre bloßen olivengelben Schultern herabfällt, in einer weißen Tunika mit goldner Borte und in einem Seidentrikot, das sie zur lebenden griechischen Statue macht, wie sie dann (...) durch einen riesigen Reifen springt, dessen Seidenpapier in der Luft zerreißt, wenn das Pferd in gestrecktem Galopp unter ihr wegeilt und sie mit Anmut wieder auf seinen Rücken fällt, wenn das ganze Volk (…) Beifall klatscht … ja, das packt mich. (…)
Diese wunderbare Behändigkeit, diese beständige Anmut in beständiger Gefahr scheint mit der schönste Triumph einer Frau. (...) Sie hat die Kraft eines Herkules und kann sich mit ihrer zierlichen Hand oder mit ihrem kleinen Fuß drei bis vier Männer vom Leibe halten. Kurz, sie ist eine Göttin der Gymnastik. (…)
Sie ist sorglos wie eine Zigeunerin, sagt alles heraus, was ihr gerade einfällt, sorgt sich um die Zukunft soviel wie sie um einen Heller (…) und sie hat herrliche Einfälle“

In der Novelle „Sacha“ vom Maurice de Marsan scheint die Artistin 
den Avancen eines berühmten Malers zunächst zu folgen ...
 (Gil Blas vom 13.7.1898 mit einer Titelillustration von Th. Steinlen)

Im Roman „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“  von Thomas 
Mann ist es die Trapezartistin Andromache, „Die Tochter der Lüfte“, 
die der junge Romanheld anbetet. Ihre Beschreibung lässt unwillkür- 
lich an „Le Femme au Trapèze“ von Felcien Rops denken. 
(Druck unbekannter Provenienz um 1920)

Illustration im Programm der Gala de l'Union des Artistes 1950

Donnerstag, 12. August 2021

"Wir alle spielen Circus

 
Illustration von Eugene Iverd aus einer Werbeanzeige (Saturday Evening Post vom 3.9.1930)

... Busch“ ist der Titel eines bekannten Werks Heinrich Zilles, das einen Berliner Hinterhof zeigt, in dem Kinder ein Circusprogramm aufführen. Die Lithografie entstand in den frühen 1920er Jahren als Teil einer Reihe von Friedländer-Plakaten für den Circus Busch, daneben schuf Zille noch weitere Variationen dieses Motivs.

Kinder, die Circusprogramme nachspielen bzw. einzelne Darbietungen imitieren, waren ein beliebtes Genre-Motiv illustrierter Zeitschriften wie hier der Saturday Evening Post. Eine sehr originelle filmische Umsetzung des Themas stellt darüber hinaus die Folge „Clown Princes“ (1939) aus der populären Reihe „Our Gang“ bzw. „The little Rascals“ dar, die in Deutschland unter dem Titel „Die kleinen Strolche“ lief.

Stevan Dohanos

Frederic Stanley

"Zirkusspiele" (1924) in: Otto Nagel: H. Zille. Berlin 1968, S.142